Textprobe
Stille Tage im Midi (4)
August 2013. Gerade eben sind wir angekommen, in den frühen Morgenstunden die letzte Etappe durch das grüne Val d’Isère zurückgelegt. Die Umsetzung aus dem Norden liegt hinter uns.
Da sind wir: Gleißend hell fällt das Licht auf die Südfassade des Hauses. Die Steintreppe brütet unter der Sonne. Das Gewölbe darunter setzt dunklen Schatten in dem steil herabfallenden Licht. Leuchtend in Ocker- und Sandtönen die kantigen Bruchsteine des Hauses. Der Hof ist still, die Kieselsteine flimmern grell, der Wind bewegt die Zeder, lässt die Palmwedel knarren und streicht durch die frischen Blätter der mûrier platane. Im grellen Licht der Südseite blühen Oleander im üppigsten Rot. Zikaden hocken unter dem Grün des Blätterdaches und streichen selbstvergessen ihre Zwielaute. Über dem Gewölbe der Westseite führt die nächste Treppe am Haus hoch. Hier ist es ruhig. Hier war noch keine Sonne an diesem Tag.
Im Schatten geht man die Treppe hoch und betritt das piece principal. Diegrün ausgebleichten Holzläden vor den Fenstern werden wieder geöffnet, Geruch von verbranntem Holz und Heu hängt im Raum, er hat sich in den Mauern eingenistet und bleibt, obwohl die Kalksteine einen weißen Putz bekommen haben.
Im Lavendelzimmer ist es trocken und still. Das große Bett, ein alter Tisch mit einem Stuhl, dessen Sitzfläche aus Schilf geflochten ist. Die Fensterläden öffnen, Licht hereinströmen lassen und den süßen Geruch des Südens. Wir sind wieder angekommen.
Die salle de commune ist der große Raum nach Norden. Das alte Bauernhaus war hier seit Jahrzehnten eine Ruine. Jetzt gibt es mittelmeerweiße Steinwände mit moderner Dämmung und großen Atelierfenstern in schmiedeeisernen Rahmen. Da steht der alte Bibliothekstisch, er wird nun wieder die Tafel für viele Leute. Die wunderschönen, zartbeinigen Tiere, les araignées, haben sich in der Umgebung der Querbalken in Struktur und Geruch der Douglasien aus dem Jura eingenistet. Zwischen Decke und Holz machen sie es sich mit ihren Nestern gemütlich, bis in die letzten Winkel des hohen Raumes.
Glastür auf, und man ist wieder draußen, auf der Terrasse, weiter Blick über die Garrigue, von da weht Zikadengesang heran. Die Nachbarin kommt für einen petit bonjour, nimmt Platz und erzählt von schweren Gewittern, Stürmen über dem Buschwald und Sturzregen. C‘est dur, le Gras, sagt sie.

Wir trinken einen Pastis zusammen. Das löst die Spannung, die Gedanken an das, was einen wieder alles erwartet, wenn man hier lebt, wenn auch nur für eine Zeit des Sommers, und sie sagt: Quand ce chant, le Gras, c’est beau.
Wie wahr. Auch deswegen sind wir wieder hier. Der Sommer geht im Süden weiter.
Zum Gesang der Garrigue gehören auch die Frösche. Unter dem überdachten Teil der Terrasse führt eine steile, weiß gekalkte Steintreppe hinunter in den Ostgarten. Hier träumt dunkel das Wasserbecken, das den Regen auffängt, die moderne Zisterne. Wassergräser, eine Seerose, eine Lilie und die Algen verbreiten grasigen, warmen Geruch. In den Gesang der Zikaden mischt sich der Männerchor von zwei frischen Fröschen. In das Becken hinein, Frösche fangen und in anderen Gewässern aussetzen – das machen wir erst morgen.
Unter dem Laubdach der Mittelmeereichen liegt im hinteren Teil des Gartens still und verdreckt das andere Wasserbecken. Alle Insekten der Garrigue haben sich hier versammelt und treiben nun tot auf der Wasserfläche, Blätter und Viecher liegen auf dem hellen Grund. Das Wasserbecken hat offensichtlich in der Zwischenzeit eine Besiedelung erfahren, jetzt tummeln sich hier tausende kleine Larven. Also Wasser raus, die Pflanzen wässern, das Becken tiefgründig reinigen, füllen – und in dem frischen, nun türkisfarbenen Wasser abtauchen.
Auf dem Liegestuhl die schläfrigen Stunden des späten Vormittags, wenn die Hitze des Tages auf den Steinen lastet und es nur im tiefsten Schatten der Mittelmeereichen Kühlung gibt. Die Salbeiblüten leuchten vor dem grünen Einerlei des Buschwerks, Hitze und schwere Gerüche strömen heraus, das ist der Sauge de Jérusalem mit pelzigen Blättern und grellgelben Blüten. Schwerer Sonnengeruch, der Geruch der Hitze. Um eins muss man in das alte Haus gehen und alle Läden und Türen schließen. So ist das im heißen Süden. Das war damals auch so.
Zu so einem Haus aus alten Steinen und dicken Wänden sind wir in der Mittagshitze hochgestiegen. Zum ersten Mal ein Mittelmeerhaus, ein weißer Kubus mit zwei Türen und zwei Fenstern und Kühle hinter dicken Mauern. Drumherum am Berghang diese Matten von griechischem Salbei. Zum ersten Mal damals in Griechenland.
Indischer Sommer (3), Purandhar
Da rennt das kleine Mädchen durch den Garten, stolpert über Steine, purzelt hin, steht auf und rennt weiter, es lacht und ist voller Schalk, als es innehält und zuschaut, was der Vater macht. Der hat den Hinterhof gefegt, jetzt zerkleinert er Feuerholz für den Küchenherd, die Mutter will gleich kochen. Dann holt er die Gießkanne, vor ihm das kleine Mädchen stolpert, steht auf und will helfen, wenn er Salatbeete gießt. Es ist warm, das Kind trägt ein helles Sommerkleid, die Bougainvilleas müssen duften, es ist ein Garten in den Tropen. Da steht das kleine Haus, gerade kommt der große Bruder mit dem Go-Cart um das Haus herumgefahren.
Der Vater hat ihm zum Geburtstag einen „Selbstfahrer“ gebaut, am Vortag haben sie mit dreißig Kindern auf dem Spielplatz gefeiert. An seinem eigentlichen Geburtstag im Januar konnten sie nicht feiern, die Mutter musste zur Freundin gehen und ihr helfen, das dritte Baby auf die Welt zu bringen. Das kleine Mädchen hatte vorher hohes Fieber gehabt, drei Tage lang, die Eckzähne sollten durchkommen, es war so abgemagert, dass die Silberreifen von den Ärmchen glitten. Aber jetzt sind beide Kinder wieder fröhlich, H. ist überreich beschenkt, M. entwickelt sich zusehends, lacht schelmisch, versteht sehr viel, redet aber noch nicht. Isst allein ihr Mittagessen, holt ihr Töpfchen und hilft alles hinaustragen. Schreit nachts so oft und ohne ersichtlichen Grund auf. Tagsüber strahlend.
Es ist der Frieder, der seine Kinder beobachtet, von Woche zu Woche schreibt er nieder, was er sieht, nimmt er sich die Zeit, alles festzuhalten. Die Notizen beginnen im Februar 1945, das kleine Mädchen ist ein Jahr alt, der große Bruder Hans gerade fünf geworden.
Am nächsten Tag, es ist ein Sonntag, geht Frieder mit seinem Sohn auf den Berg, hinter den Lagerbaracken gibt es einen Weg, der zum Fort hinaufführt. Hans will getragen werden, er redet mit ihm und erklärt, dass er doch nun ein großer Junge sei und selber gehen könne, seine Schwester sei noch ganz klein, die müsse man noch tragen.
Anschließend geht er in den Garten, siebt Humus, wässert Salat und Wurzeln, dann muss er Steine schlagen, um beim Spielplatz seiner Kinder eine neue Kante zu setzen. Nach der Arbeit am Schreibtisch spielt er am Abend mit seinem Freund R. noch eine Partie Tennis. Am späten Abend notiert er: H. wohl eine leichte Eifersucht auf die kleine Schwester, neue Empfindlichkeit für Zärtlichkeiten, aber die Selbstbeherrschung nimmt zu … M. kann allerliebst und sehr energisch unartig sein.
Es ist das Leben im Family Internment Camp in Purandhar, von dem er hier berichtet. Von Woche zu Woche schreibt Frieder unter wiederkehrenden Rubriken seine Bestandsaufnahme nieder. Zuerst immer der Blick in die Welt: Was sind die politischen Ereignisse, was ist in der englischen Zeitung zu lesen, und wie ist es zu beurteilen?
In der Woche vom 4. bis 11. Februar 1945: Nach kurzem Stocken an der Oder setzt eine neue Welle der russischen Offensive ein. Dazu jetzt Unterstützungsoffensiven der Alliierten im Westen (Ardennen, Colmar). Breslau nahezu umzingelt … Elbing nach heroischem Kampf gefallen. (…) Churchill, Roosevelt und Stalin tagen derweil im Schwarzen-Meer-Gebiet. Die erste Verlautbarung: Absolute Einigkeit, Deutschland militärisch kaputt zu machen. Weltkongress der Gewerkschaften redet von Besetzung Deutschlands bis 2000. Absolute Reparationen. Zwangsarbeit zum Wiederaufbau der zerstörten Gebiete etc.
In der Woche vom 12. bis 17. Februar 1945 wurde das Treffen von Churchill, Stalin und Roosevelt in Jalta abgehalten: Besetzung Deutschlands nach Zonen. Frankreich beteiligt, Oberste Zentrale in Berlin, Reparationskommission in Moskau. In jeder Beziehung hat England nachgegeben gegen den Druck Stalins unter dem Motto Realpolitik. Polen B-Linie …
England ging mit dem moralischen Mäntelchen in den Krieg, Polen zu retten. Jetzt liefert es Polen dem russischen Erbfeind aus. Ob das nicht mehr ist als die Engländer und Amerikaner verdauen können? „Völkerbund“. Erstes Treffen in San Franzisko am 15. April. Wird Russland gegen Japan Krieg erklären? Müssen Amerika und England darum jedes Zugeständnis machen? Jalta fast zu schön, um wahr zu sein. Wenn Deutschland in dieser militärisch hoffnungslosen Lage mit letzter Kraft noch durchhalten kann, kann sich politisch noch ein verhandelter Friede möglich machen?
…
Zwei Jahre wohnten sie jetzt wieder zusammen, gemeinsam mit sehr vielen Familien in den anderen Baracken. Hunderte lebten hier, verschiedene Sprachen wurden gesprochen. Alle hatten in Indien gelebt und gearbeitet, als British India durch die Kriegserklärung Englands in den Weltkrieg hineingezogen wurde. Damit waren sie alle enemy aliens geworden, zuerst waren nur die Männer interniert, zuletzt auch die Frauen und Kinder in diesem Lager untergebracht worden.
Im Laufe der zwei Jahre hatten sich die Familien ihr Leben eingerichtet:
Aus dem Dorf am Fuß des Berges kam jeden Morgen eine Lieferung Milch.
Es gab eine Bäckerei, es wurde Brot gebacken.
Es gab einen Arzt und ein Hospital.
Es gab einen Kindergarten, und die Familien berieten, wie sie eine private Schule organisieren könnten.
Es gab eine Bibliothek. Dort wurden die Zeitschriften und Bücher, an die man privat herankommen konnte, für die anderen bereitgelegt.
Es gab verschiedene Komitees. Sie organisierten Sport, Konzerte, Chor, Bridgeturniere und, wo es möglich war, auch die Ausbildung in bestimmten Fachgebieten.
Es war die leitende Idee, dass Hunderte von Leuten, die auf ungewisse Zeit in einem Internierungslager miteinander zurechtkommen mussten, das nur hinkriegen konnten, wenn sie ihre Geschicke in die Hand nahmen und gemeinschaftlich organisierten. Es wurde eine Art von Organisationsstruktur versucht, für jedes Ressort gab es eine verantwortliche Gruppe, ein committee, und einer leitete diese Gruppe, so war es vermutlich gedacht.
…
In der Familie gingen alle ihren gewohnten Verrichtungen nach. Die kleine Tochter kletterte überall herum, fasste praktische Dinge sehr gut auf, sprach aber noch nicht. Der Sohn malte Buchstaben und wollte alles lesen können. Im Juni sollte er in die erste Klasse der gerade eingerichteten Schule gehen, der Kollege W. hatte den Unterricht organisieren können.
Frieder konnte endlich Wein ansetzen, neun Flaschen hatte er abgezogen, da gab es einen Schreck. Die Kleine hustete stark. Sofort kam vom Lagerarzt die Anweisung: Quarantäne für die Kinder wegen Keuchhustengefahr. Zum Glück ging es dem Kind am nächsten Tag schon wieder besser. Frieder hatte Zeit, den Kinderwagen aus dem Schuppen hervorholen und ein weiteres Mal zu reparieren und neu anzumalen. Mit Reimer reinigte er den verrußten alten Herd in der Küche und konnte am Abend vier Flaschen Wein noch mal mit Hefe versetzen, damit er besser durchgärte.
Während das alles auf dieser weltentrückten indischen Insel geschah, in den Lagerbaracken und Häusern am Berghang, in den Westghats bei Bombay, begann in der Woche vom 17. bis 23. April die große russische Offensive gegen Berlin und drang bis zu den Vorstädten Berlins vor. Hitlers Tagesbefehl richtet sich nur an die Ostfront. In Österreich und Oberschlesien deutsche Gegenangriffe. Goebbels’ Aufruf. Deutschland erfüllt seine Mission: Kampf gegen Bolschewismus, bis zum Letzten.
Westen: Druck auf Emden, Bremen Hamburg, nachdem die Lüneburger Heide überrannt ist. Halle, Dessau, Leipzig und Chemnitz fallen. Die ersten Amerikaner in der Tschechei … Erster Kontakt mit den Russen wahrscheinlich nördlich Leipzig-Dresden.
Frieder schnitt die Skizze der Frontverläufe aus und legte sie zu seinen Notizen.
24. bis 30. April: Der Zusammenbruch scheint unaufhaltbar. Amerikaner und Russen haben sich bei Torgau vereint. Berlin ist umzingelt und wird Straße für Straße erobert. Bremen wird gestürmt. Die Engländer gehen über die Elbe auf Lübeck und Hamburg zu. (…) Deutschland hat keine zusammenhängende Front mehr …
Der kleine Hans brauchte Betreuung, wegen Keuchhustengefahr hatte er keine Spielkameraden und war schwierig, tobte aber mit seiner Schwester. Wieder mal der Kampf gegen Wanzen. Den Kindern sollten die Haare geschoren werden. Am Ende dieses Tages erschrak Frieder, als er in der Zeitung las: Plötzlicher Zusammenbruch der militärischen Lage in Deutschland … Im Lager gedrückte Stimmung. Uns fehlt die Ahnung zum Verstehen …
Am 8. Mai 1945 teilte der Kommandant mit, dass die „unconditional surrender“ in der Nacht 2 Uhr vorläufig unterzeichnet sei. Glockengeläut. 9. und 10. Feiertag.
Noch mal Salut und Glocken der Russen. Einen Tag später endgültig gezeichnet in Berlin …
Nur in Böhmen gehorcht Feldmarschall F. Sch… nicht und kämpft um Deutschlands Ehre. Zweifelhafte Position von Dönitz. In Schleswig-Holstein hat unter ihm noch Busch das Kommando. Selbstmordwelle unter den Führern.
Unruhe im Lager, tausend Gerüchte. Was würde mit ihnen jetzt geschehen, was war mit den Familien in Deutschland … Da passierte es: Das kleine Mädchen war allein im Lager herumgelaufen, bei den Salatbeeten? Nein, beim Wasserbecken. Die große Zisterne. Da war sie hineingefallen! Irgendjemand hatte es gesehen, die Kinderfrau Sumoti kam entsetzt angelaufen. Da war das Kind schon herausgeholt. Alles war noch mal gut gegangen. Furchtbarer Schreck für Christalein. Größte Sorge in der Nacht … Belladonna beruhigt. Gefahr behoben, notiert Frieder.
Die Mutter hatte sich beruhigen können, die Kinder schliefen schließlich, da konnten die Männer noch ein wenig beisammensitzen: Kriegsende abends mit R. ruhig begangen. Die Missionare wollen darüber sprechen, was an Himmelfahrt geschehen soll, R. wird predigen als 2. Pastor.
Am nächsten Tag ging Frieder wie immer mit seinem Sohn auf den Berg, um Holz zu holen. Dann reparierte er das Harmonium, am Abend hatte das Mädchen hohes Fieber und Schmerzen. Krank, hustend und blass lag es im Bett. Eckzähne? fragten sich die Eltern.
Warum kamen sie nicht auf die Idee, dass der Sturz in das tiefe Wasser bei ihrem Kind hatte etwas anrichten können? Die Leute bewegte etwas anderes. Das Ende des Weltkrieges traf sie zutiefst – war das die Erklärung?
Vielleicht war es dies Schlüsselerlebnis, das dieses Bild festgeruckelt hat: Das kleine Kind am Beckenrand, beugt sich rüber, schaut rein, in die Tiefe, freut sich, will näher und verliert das Gleichgewicht, plumpst kopfüber, schreit, spuckt, spaddelt, und dann der Griff und auf dem Arm von Sumoti … Die Lust am Wolkenbild da unten, das Wasser voll Himmel, und ab dann die Angst zu der Lust … wer weiß. So tief, wie das Wasser war, verschwand dieses Ereignis im dunklen Schacht der Erinnerungen und spukte von da aus herum … Heute ist es vielleicht durch die Notiz des Vaters ans Licht gebracht worden …
Die kleine Tochter erholte sich vom Sturz ins Wasser und dem Fieberschub, die Eckzähne kamen durch, der Appetit besserte sich, und sie nahm wieder zu. Allein stellte sie dem Milchmann den Milchtopf hin, deckte nach der Mahlzeit den Tisch ab. Der Vater registrierte wieder die erstaunliche Auffassungsgabe des Kindes, dann sagte er: Komm, wir gehen zur neuen Wasserleitung, wir können jetzt die neuen Beete mit den frischen Saaten der Wurzeln gießen, da rannte sie hin, stolperte und stand wie immer wieder auf. Der Vater lachte und schaute seine Tochter an: ihr Kopf zerbeult und verschrammt von all dem Purzeln …